Traditionalisten aller Länder, vereinigt Euch!

20.05.2024

Die Amtseinführung von Präsident Putin kennzeichnet eine neue Phase in der Geschichte Russlands. Einige Entwicklungslinien aus vorhergehenden Leglislaturperioden werden sicherlich fortgesetzt werden, einige werden eine kritische Schwelle erreichen. Andere werden gekürzt werden. Aber auch etwas Neues muss entstehen.

Ich möchte die Aufmerksamkeit auf den ideologischen Aspekt lenken, der zu einem grundlegenden Vektor für Russlands weitere Entwicklung im internationalen Zusammenhang werden könnte.

In unserer erbitterten Konfrontation mit dem Westen, die am Rande eines nuklearen Konflikts und einem Dritten Weltkrieg steht, wird das Problem der Werte zunehmend offensichtlich. Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur ein reiner Konflikt zwischen Staaten mit durchaus rationalen nationalen Interessen, sondern ein Kampf der Kulturen, indem alle beteiligten ihr Wertesystem bis aufs Messer verteidigen.

Heute ist es bereits klar geworden, dass Russland sich definitive dazu verpflichtet hat seine traditionellen Werte zu verteidigen und diese als integralen Bestandteil betrachtet, um seine zivilisatorische Identität und geopolitische Souveränität zu stärken. Dabei geht es nicht nur um die verschiedenen Interessen individueller Subjekte innerhalb derselben – westlichen – Zivilisation, wie der eskalierende Konflikt zwischen Russland und dem kollektiven Westen bis vor kurzem nahelegen würde.

Der modern kollektive Westen verteidigt bis aufs Blut:

  • Absoluten Individualismus
  • LGBT- und Genderpolitik
  • Kosmopolitismus
  • Cancel Culture;
  • Posthumanismus
  • Uneingeschränkte Einwanderung
  • Die Zerstörung aller Formen von Identität
  • Kritische Rassentheorie (der zufolge vormals unterdrückte Völker jedes Recht dazu haben ihre ehemaligen Unterdrücker zu unterdrücken)
  • Relativistische und nihilistische postmoderne Philosophie

Der Westen zensiert seine eigene Geschichte schonungslos, verbietet Bücher und Kunstwerke und der US-Kongress bereitet das Entfernen ganzer Passagen aus der Heiligen Schrift vor, die angeblich gegenüber bestimmten Völkern aufgrund ihrer Ethnie und Religion anstößig seien. Darüber hinaus hat die Entwicklung digitaler Technologien und neuraler Netzwerke das Thema des Transfers der globalen Ordnungspolitik von Menschen zur Künstlichen Intelligenz aufgeworfen — und einige westliche Autoren feiern dies bereits als unglaublichen Erfolg und die lang erwartete Ankunft der Singularität.

Im Gegensatz zu all dem bietet Putins Russland eine ganz andere Werteordnung an, die großteils rechtlich im Dekret Nummer 809 vom 09.11.2022 festgehalten wurden. Russland verteidigt entschlossen:

  • Die kollektive Identität gegen den Individualismus
  • Den Patriotismus gegen den Kosmopolitismus
  • Gesunde Familien gegen die Legalisierung der Perversionen
  • Die Religion gegen den Nihilismus, Materialismus und Relativismus
  • Die Menschheit gegen posthumane Experimente
  • Die organische Identität gegen ihre Verwässerung
  • Die historische Wahrheit gegen die Cancel Culture

Dabei handelt es sich um zwei einander entgegenlaufende Orientierungen, mehr noch – zwei antagonistische Ideologien und Weltanschauungen. Russland entscheidet sich für die Tradition — der Westen hingegen für alles nicht-traditionelle und sogar anti-traditionelle.

Dies macht den Konflikt in der Ukraine, wo diese beiden Zivilisationen in einem Kampf bis aufs Blut gegeneinander antreten, zu viel mehr als einem gewöhnlichen Interessenkonflikt. Es gibt in der Tat einen Interessenkonflikt, aber das ist nicht der eigentliche Punkt. Der eigentliche Punkt besteht darin, dass zwei Modelle für die weitere Entwicklung der Menschheit miteinander in eine Konfrontation eingetreten sind — der liberale, globalistische und anti-traditionelle Weg des modernen Westens und der alternative, multipolare, polyzentrische Weg der die Tradition und traditionelle Werte bewahrt, für den Russland kämpft.

Es ist an der Zeit festzustellen, dass die Multipolare Welt, der gegenüber Russland seine Loyalität in den vorhergehenden Phasen von Putins Herrschaft erklärt hat, nur Sinn macht, wenn wir jeden ihrer Pole anerkennen. Jede Zivilisation (wie sie heute in den BRICS repräsentiert wird) hat das Recht ihre Identität, ihre Tradition und ihr Wertesystem zu verteidigen. Die Multipolarität wird sinnvoll und gerechtfertigt, wenn wir zur Pluralität der existierenden Kulturen übergehen und ihr Recht anerkennen ihre Identitäten zu bewahren und zu entwickeln, ausgehend von ihren inneren Prinzipien. Das bedeutet, dass die Pole der Multipolaren Welt, im Gegensatz zum unipolaren globalistischen Modell, indem die Werte des Westens von vornherein als universal betrachtet werden, Russlands Weg bis zu einem gewissen Grad folgen und dabei ihre eigenen – jeder auf seine eigene Art – traditionellen Werte verwenden.

Wir können dies klar im modernen China erkennen. Es lehnt nicht nur den Globalismus, Liberalismus und globalen Kapitalismus als Dogma ab, behält einige wesentliche Eigenschaften des sozialistischen Systems, sondern wendet sich auch in einem zunehmenden Maße den ewigen Werten der chinesischen Kultur zu, belebt dabei die politische und soziale Ethik des Konfuzius wieder, die die Gesellschaft Jahrtausende lang inspiriert und organisiert haben. Es ist kein Zufall, dass eine der führenden Theorien des modernen Chinas in den Internationalen Beziehungen die alte Idee des Tianxia ist, in der China als das Zentrum eines Weltsystems gedacht wird, wobei alle anderen Nationen das Reich der Mitte in der Peripherie umschließen. China ist sein eigenes absolutes Zentrum, offen zur Welt hin, aber gleichzeitig überwacht es mit strengem Auge seine Souveränität, Einzigartigkeit und Originalität.

Das moderne Indien (Bharat) bewegt sich in dieselbe Richtung, insbesondere unter der Herrschaft von Narendra Modi. Abermals dominiert hier die tiefe Identität namens Hindutva, die die Grundlagen der alten vedischen Kultur wiederbelebt, ihre Religion, Philosophie und soziale Struktur.

Die islamische Welt weist das Wertesystem des Kollektiven Westens sogar noch kategorischer zurück, dass keineswegs mit den islamischen Gesetzen, Regeln und Bestimmungen kompatibel ist. In diesem Fall liegt der Schwerpunkt auf der Tradition.

Die afrikanischen Nationen bewegen sich ebenfalls in diese Richtung und treten in eine neue Phase der Entkolonialisierung ein — dieses Mal im Sinne des Bewusstseins, der Kultur und der Mentalität. Immer mehr afrikanische Denker, Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wenden sich den Wurzeln ihrer indigenen Kulturen zu.

Auch Lateinamerika entdeckt Stück für Stück diese neuen Horizonte des Traditionalismus, der Religion und der kulturellen Wurzeln, wobei es zunehmend in Konflikt mit den USA und dem kollektiven Westen gerät. Die Besonderheit Lateinamerikas liegt darin, dass der anti-koloniale Kampf lange hauptsächlich unter linken Slogans geführt wurde. Die Lage ändert sich gerade: Die Linke entdeckt die traditionellen und konservativen Wurzeln ihres Kampfes (zum Beispiel in der Befreiungstheologie, in der der katholische Faktor dominiert) und die konservative anti-koloniale Front wächst (zum Beispiel in der Theologie des Volkes).

Doch bis jetzt ist keine der Zivilisationen, die sich zur Multipolarität hin orientiert haben in einen direkten bewaffneten Konflikt mit dem Westen eingetreten, abgesehen von Russland. Viele zögern und warten auf den Ausgang dieser dramatischen Konfrontation. Obwohl der Großteil der Menschheit die Hegemonie des Westens und seine Wertesysteme insgeheim ablehnt ist niemand abgesehen von uns dazu bereit in eine direkte Konfrontation mit ihm einzutreten.

Dies gibt Russland die einzigartige Gelegenheit dazu die weltweite konservative Wende anzuführen. Die Zeit ist reif offen bekannt zu geben, dass Russland gegen den Anspruch der westlichen Zivilisation kämpft, dass ihre Werte universal sind und steht gänzlich und unverbrüchlich für die Tradition, sowohl für die eigene (russisch und orthodox) als auch für alle anderen. Denn auch sie werden mit der unausweichlichen Zerstörung konfrontiert, wenn der Globalismus triumphiert und die westliche Hegemonie obsiegt.

Alle Zivilisationen auf der Welt sind konservativ, dies ist die Grundlage ihrer Identität. Und sie werden sich zunehmend dieser Tatsache bewusst. Nur der postmoderne Westen hat sich zum radikalen Bruch mit seinen alten christlichen Wurzeln entschlossen und hat damit begonnen eine Kultur der Degeneration zu erbauen, der Perversion, der Pathologie und der Ersetzung des Menschen durch postmenschliche Organismen (von der KI über Cyborgs bis hin zu Chimären und genetisch veränderten Produkten). Sogar innerhalb des Westens selbst lehnt ein signifikanter Teil der Gesellschaft diesen Pfad zunehmend ab und widersetzt sich vehement dem Weg dieser herrschenden postmodernen liberalen Eliten hin zur finalen Abschaffung der historisch-kulturellen Identität der westlichen Gesellschaften selbst.

In Putins neuer Amtszeit als Präsident wäre es daher durchaus logisch den Schutz der Tradition zu verkünden — in Russland und auf der ganzen Welt, den Westen miteingeschlossen — als wesentliches Ziel seiner ideologischen Sendung. Wladimir Putin wird bereits von der Menschheit als ein großer Führer angesehen, der im heldenhaften Widerstand gegen die westliche Hegemonie seine Aufgabe erfüllt. Nun ist es an der Zeit Russlands weltweite Mission zu verkünden, die aus dem Schutz der Zivilisationen und ihrer traditionellen Werte besteht. Wir haben genug davon mit dem Westen und seinen Strategien, Begriffen, Protokollen und Kriterien herumzuspielen. Die zivilisatorische Souveränität besteht darin, dass jede Nation das Recht hat Direktiven von Außen zu akzeptieren oder zurückzuweisen und ihren eigenen, einzigartigen Weg zu entwickeln, unabhängig von der Unzufriedenheit von jemand anderen.

Erst vor kurzem erklärte die britische Zeitung The Mirror, dass zehn Worte aus der Antrittsrede von Präsident Putin “eine frostige Drohung an den Westen” darstellen würden. Diese Worte lauteten wie folgt: “Das Schicksal Russlands wird nur von uns selbst bestimmt werden.“ Jeder Verweis auf die eigene Souveränität wird vom Westen als Kriegserklärung angesehen. Russland hat diese Tatsache zum eigenen Vorteil genützt und wird deswegen all diejenigen unterstützen, die genauso entschieden für die eigene Souveränität eintreten wie es selbst.

Natürlich verfügt jede Zivilisation über ihre eigenen traditionellen Werte. Doch heute werden sie alle von einer aggressiven, intoleranten, hinterhältigen und perversen Zivilisation angegriffen, die einen gnadenlosen Krieg gegen jede Tradition führt – gegen die Tradition an sich. In dieser Lage kann sich Putins Russland offen zum Träger der gegenteiligen Mission erklären — um zum Verteidiger der Tradition und Normalität, der Kontinuität und Identität zu werden.

Im 20 Jahrhundert gründete Russlands Einfluss in der Welt hauptsächlich auf der linken Bewegung. Doch heute ist er schrittweise verschwunden — entweder wurde er vom Liberalismus absorbiert oder hat sich selbst erschöpft (in seltenen Ausnahmefällen hat er sich im Bündnis mit anti-kolonialen konservativen Trends halten können). Nun ist es an der Zeit auf Konservative und Unterstützer der zivilisatorischen Identitäten zu setzen. Und daher wird ein neuer Leitspruch geboren: Traditionalisten aller Länder, vereinigt euch!

Wir dürfen darüber nicht schüchtern sein, uns deswegen schämen oder es verbergen. Je mehr wir selbstbewusst diesen Weg beschreiten, desto schneller und zuverlässiger wird unser Einfluss in der Welt anwachsen. Da wir uns zur Orientierung in Richtung Multipolarität entschlossen haben, müssen wir dahingehend konsequent sein.

Jeder betrachtet Putin bereits als Schlüsselfigur in dieser konservativen Wiedergeburt. Es ist Zeit das offen zu bekennen. In jedem Fall ist Kritik aus dem Westen unausweichlich, aber jetzt sind die entscheidenden Faktoren in Beziehung zu ihm komplett anders. Und unsere Verbündeten — tatsächliche und potenzielle — werden Russland mit neuer Begeisterung unterstützen. Sie werden unsere weitreichenden Ziele und Zwecke eindeutig verstehen. Sie werden uns vertrauen und ohne zu zweifeln und ohne Zögern, damit anfangen mit uns gemeinsam eine faire und ausgeglichene Weltordnung zu errichten, im Interesse des überwältigenden Teils der Menschheit.

Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Markovics

Abstract: 
Alexander Dugin behauptet, dass die Amtseinführung von Präsident Putin eine neue Phase kennzeichnet, die traditionelle Werte und Multipolarität betont, während sie gleichzeitig Verbündete wie China und Indien gegen die westliche Hegemonie mobilisiert.