Die Pleite-Ukraine erhält neues IWF-Geld

16.09.2016
Das Land braucht dringend frisches Geld, und eine neue Milliarde wird gegen alle Kriterien in das Fass ohne Boden gepumpt.

Dass es um die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine alles andere als gut bestellt ist, dürfte weitgehend bekannt sein. Dabei behauptet das Land zwar das Gegenteil, doch es braucht dringend frisches Geld. In Kiew drängte man deshalb darauf, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) endlich eine weitere Tranche aus dem IWF-Kreditprogramm im Umfang von 17,5 Milliarden US-Dollar freigibt. Denn das sollte nur ein "Signal" an andere Geldgeber sein. Und über alle Kriterien hinweg fließt nun erneut eine Milliarde US-Dollar des IWF. Der Weg wurde darüber freigemacht, dass Kiew nun bereit ist, mit Russland über die Rückzahlung eines Kredits in Höhe von drei Milliarden Dollar zu sprechen, um die extra für die Ukraine aufgeweichten neuen Statuten auf dem Papier zu erfüllen.

Die dramatische Lage auf allen Ebenen im Land hatte sich in der letzten Zeit zugespitzt, da auch die Kämpfe in der Ostukraine wieder deutlich stärker aufgeflammt sind. Die sind ebenfalls nicht zuträglich dafür, die prekäre wirtschaftliche Situation im Land zu stabilisieren. Dafür wäre, neben einer realen Korruptionsbekämpfung, auch eine Friedenslösung im Konflikt mit den abtrünnigen Regionen in der Ostukraine notwendig. Für die hat sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier nun einsetzt.

Er ist mit seinem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault am Mittwoch nach Kiew gereist und zeigte sich im Vorfeld optimistisch, dass es möglich sei, sich "ohne Vorbedingungen" auf "einen belastbaren Waffenstillstand zu verständigen". Berlin und Paris würden an einer politischen Lösung festhalten, weshalb man an die Verantwortung der Konfliktparteien appelliert. Und tatsächlich ist nun eine siebentägige Feuerpause vereinbart worden, die um Mitternacht in Kraft trat.

Für Steinmeier ist die Ukraine der Schlüssel dazu, die Beziehungen zu Russland wieder normalisieren zu können. Er hält nichts von einem "Säbelrasseln" der Nato, wirbt für eine Deeskalation und strebt deshalb auch "Transparenz, Risikovermeidung und Vertrauensbildung" an. Es war kein Zufall, dass der Bundesaußenminister ausgerechnet mit Ayrault nach Kiew gereist ist. Denn beide setzen sich vor allem aus wirtschaftlichen Interessen in einer Eurozone, in der das Wachstum weiter schwächelt, dafür ein, dass die ökonomisch schädlichen Sanktionen gegenüber Russland aufgeweicht oder ganz aufgehoben werden.

Der Franzose Ayrault hatte den Russen schon offen eine schrittweise Lockerung der Sanktionen in Aussicht gestellt, wenn es zu Fortschritten bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen komme. Insgesamt werden die Stimmen in Europa lauter, die eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland fordern. Damit verschlechtert sich die Position der Ukraine zusehends, die sich im Stich gelassen sieht. Inzwischen ist sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel von der Maximalforderung abgerückt, dass die Abkommen zuerst völlig umgesetzt sein müssten, bevor an eine Lockerung der Sanktionen zu denken sei.

Die Ukraine, deren Pleite nur durch internationale Geldgeber abgewendet werden kann, hat vor diesem Hintergrund auf eine Entscheidung des IWF gewartet, endlich eine weitere Tranche aus dem Kreditprogramm des IWF zu erhalten. Der IWF hatte im Rahmen eines Gesamtprogramms im Umfang von 40 Milliarden, an dem auch die EU beteiligt ist, 17,5 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt. Davon waren bisher gut 7,5 Milliarden geflossen und nun soll eine Milliarde nachgeschoben werden.

Zuletzt hatte Präsident Petro Poroschenko erklärt, man sei nahe an einer Übereinkunft mit dem IWF. Nach einem Telefonat mit der IWF-Chefin Christine Lagarde hatte er vergangene Woche bestätigt, dass die Entscheidung über die nächste Tranche aus dem Kreditprogramm des IWF am gestrigen Mittwoch fallen sollte. "Ich rechne mit einem positiven Bescheid", fügte Poroschenko schon frohlockend an. Zuvor musste aber noch ein wenig gemauschelt werden. Denn auch der IWF hat zusehends Probleme damit, neue Auszahlungen an die Ukraine zu rechtfertigen, auch wenn durch diverse Manöver immer wieder Extrawürste für sie gebraten wurden. Jetzt sagte er nach der Entscheidung des IWF, die nächste Tranche auszuzahlen, dass der IWF damit die Umsetzung der Reformen bestätige und dass das Land auf dem richtigen Weg sei.

Eigentlich dürfte kein Geld an ein Land ausbezahlt werden, das sich im Bürgerkrieg befindet. Und so ist es kein Zufall, dass Steinmeier und Ayrault ausgerechnet jetzt in die Ukraine gereist sind. Mit der neuen Waffenruhe wird so getan, als sei man auf dem Weg raus aus dem Bürgerkrieg. Ausdrücklich hatte sich von dort auch der Bundesaußenminister auch für die nächste Zahlung an die Ukraine ausgesprochen. Das kann durchaus auch als Beruhigungspille angesichts der Befürchtungen gesehen werden, die die Ukraine angesichts Steinmeiers Annäherungskurs hegt. Im Gespräch mit dem ukrainischen Regierungschef Volodymyr Groysman ging es auch vor allem um Investitionen.

IWF-Reformen für die Ukraine

Zudem hatte man schon private Gläubiger zu einem Schuldenschnitt gedrängt, um den Schuldenstand des Landes zu senken, der in den letzten Jahren auf mindestens 67 Milliarden Dollar explodiert ist. Auch mit geschönten Zahlen wurde bisher stets dazu beigetragen, eine angebliche Schuldentragfähigkeit zu konstruieren, ohne die der IWF ebenfalls kein Geld ausreichen darf.

Doch in der Washingtoner Finanzorganisation ging man sogar soweit, eilig zum Jahreswechsel eine Änderung der Statuten zu beschließen. Bisher durfte der IWF einem Staat auch keine neuen Kredite mehr gewähren, wenn der seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber anderen Staaten nicht mehr nachkommt. Genau diese Regelung wurde im vergangenen Dezember geschleift. Denn die Ukraine hat einen fälligen Kredit an Russland nicht bis zum 21. Dezember zurückgezahlt. Klar, angeblich hatte die Statutenänderung aus Sicht des IWF nichts mit der Ukraine zu tun.

Schon seit 2013 habe man sich darüber Gedanken gemacht, wie man verhindern könne, dass Gläubiger die Umschuldung eines ganzen Landes blockieren könnten. Man wolle nur verhindern, dass es zu "höheren Verlusten für Gläubiger und Schäden am internationalen Finanzsystem" komme, behauptete der IWF. Aus seiner Sicht fielen die Statutenänderungen rein zufällig mit der offiziellen Ukraine-Pleite zusammen. Schließlich habe man sich die Gedanken sogar schon gemacht, bevor es den russischen Kredit an die Ukraine überhaupt gegeben habe, ließ man aus Washington verlauten:

"The need for this reform has been evident for some time now. IMF staff first raised concerns about the risks inherent in the institution’s policy on non-toleration of arrears to official bilateral creditors back in 1989, when IMF rules with regard to private creditors were amended. These concerns were reiterated in the May 2013 paper, before the Russian loan to Ukraine even existed. On both occasions, staff argued that protections under the policy should not automatically extend to non-contributing creditors and that the policy needed to be reformed to strengthen incentives for collective action among official bilateral creditors." IMF

Trotz allem war auch dem IWF klar, dass sich Problem mit den ukrainischen Schulden bei Russland nicht so einfach wegwischen lässt. Und bekannt ist auch, dass die Finanzorganisation weder in Argentinien noch in Griechenland nachsichtig ist. Doch mit Hilfe des IWF hatte die Ukraine schon einen Trick versucht. Sie wollte die Staatsschulden bei Russland in den Schuldenschnitt mit den privaten Gläubigern einbeziehen. Doch das war sehr durchsichtig und Russland lehnte das vehement ab. Eigentlich dürfte man sich auch beim IWF darüber bewusst sein, dass man trotz der Veränderungen der Statuten nun einen weiteren Tabubruch begeht.

Extrem lasche Auslegung der IWF-Kriterien

Seit dem vergangenen Herbst wurde keine Tranche mehr in die Ukraine überwiesen. Und den Geldfluss wieder zu ermöglichen, hat man in den letzten Wochen vor der Entscheidung weiter getrickst. Mit Blick auf die die neuen Statuten war es deshalb nicht mehr sonderlich verwunderlich, wenn vor der Sitzung des IWF-Direktoriums am Mittwoch, plötzlich Bewegung in die Schuldenfrage kam. So erklärte Finanzminister Oleksandr Daniljuk zum Wochenbeginn, die Ukraine sei zu weiterführenden Gesprächen bereit, um eine "mögliche Lösung" in der Auseinandersetzung zu bekommen. Dabei verwies er ausdrücklich auf die "Verpflichtungen" gegenüber dem IWF. Damit war die wachsweiche Formulierung in den neuen Statuten gemeint, wonach der Schuldner "gutgläubige Bemühungen" zur Einigung mit dem Gläubiger zeigen muss, damit weitere IWF-Gelder fließen können. Sonst hätte man wohl in Kiew wohl weiter keinerlei Bereitschaft gezeigt, auch nur über die Frage sprechen zu wollen.

Der russische Finanzminister Anton Siluanow erklärte allerdings, man habe bisher noch keine offizielle Anfrage erhalten, um über die Restrukturierung der Schulden zu sprechen. Siluanow erklärte seinerseits aber, Russland habe zwischenzeitlich der Ukraine einen "interessanten Vorschlag" gemacht. Den habe der russische Präsident auch dem IWF schon überreicht. "Es geht darum, dass wir zu einer Stundung bereit sind, doch muss der eigentliche Kreditbetrag im vollen Umfang ausgezahlt werden", sagte Siluanow.

Er bekräftigte, dass Russland die Bedingungen jedenfalls nicht dafür für erfüllt sieht, damit der IWF der Ukraine weiteres Geld zur Verfügung stellen könne. Diese Meinung kann man teilen, schaut man sich die Lage im Land an. Und so ist es ein neuer Offenbarungseid, dass dem IWF sogar die alleinige Ankündigung der Ukraine reicht, zudem ohne konkrete Vorschläge, mit Russland verhandeln zu wollen, um diesen neuen wachsweichen Statuten gerecht zu werden. Eine unkonkrete Ankündigung soll nun also die geforderten "gutgemeinten Bemühungen" dokumentieren. Damit könnte praktisch jedem Land nun wieder Geld ausgezahlt werden. Man darf gespannt sein, ob die extrem lasche Auslegung der IWF-Kriterien auch auf andere Länder angewendet wird. Russland hat jedenfalls schon im Frühjahr Klage gegen die Ukraine auf die Rückzahlung der drei Milliarden Dollar plus Zinsen bei einem Gericht in London eingereicht, um seine Ansprüche geltend zu machen und zu unterstreichen, dass die Ukraine bankrott ist.

Wenn Russland die Bedingungen für neues IWF-Geld nicht gegeben sieht, hat das auch damit zu tun, dass in diesen Tagen auch die Schuldentragfähigkeit der Ukraine, deren Schulden nun weiter steigen, zusätzlich in Zweifel geraten ist. Letztlich gab der ukrainische Finanzminister diese Tage auch zu, dass seine Vorgängerin Natalia Jaresko die Prognosen aufgehübscht hatte, um zu einer positiveren Einschätzung der Lage zu kommen. "Wir hatten einen unrealistischen Haushalt 2016", sagte Daniljuk.

Weil die Privatisierungen bisher nicht wie geplant laufen und die wirtschaftliche Erholung nicht wie geplant eintritt, will die Regierung jetzt so richtig auf die Sparbremse treten. Ob das real passiert, muss abgewartet werden. Dass es der Ukraine gelingt, ihr Versprechen gegenüber dem IWF und den internationalen Gläubigern einzuhalten, das Defizit im laufenden Jahr auf 3,7% zu begrenzen, davon braucht man unter den politischen und ökonomischen Vorzeichen nicht auszugehen.

Die Wirtschaft ist in den letzten beiden Jahren (allein 2015 schrumpfte sie um etwa 10%) massiv eingebrochen. Kiew geht derzeit nur noch von einem schwachen Wachstum von 1,5% für das laufende Jahr aus. Optimistisch hofft das Finanzministerium für 2017 aber auf ein Wachstum von 3%. Und dann soll das Defizit auf nur noch 3% gedrückt werden. Bei der Inflationsbekämpfung hofft Kiew, sie von derzeit 12% auf gut 8% senken zu können. Doch ist klar, dass diese neuen Ziele bestenfalls umgesetzt werden können, wenn das Land aus dem Kriegszustand herauskommt.

Ohne eine effektive Korruptionsbekämpfung kann das Land nicht aus dem Schlamassel herauskommen. Auch hier hat man nun vor allem mit Blick auf neue Kredite viel Schminke aufgelegt. Angeblich soll nun verschärft gegen Korruption vorgegangen werden. Seit Monatsbeginn wurde, weil auch der IWF eine Korruptionsbekämpfung gefordert hatte, ein neues System eingeführt. Spitzenbeamte, Abgeordnete und Regierungsmitglieder sollen mit einer "elektronische Erklärung" Auskunft über ihren Besitz geben. Dies habe Poroschenko vor der IWF-Entscheidung regelrecht verordnet, obwohl das System noch erhebliche Mängel zeige und es sogar schon gehackt worden ist.

Es ist bezeichnend, wenn sogar der scheidende US-Botschafter Geoffrey Pyatt an der Bereitschaft zu einer wirklichen Korruptionsbekämpfung zweifelt: "Ich bedaure, dass die Regierung und der Präsident nicht energischer gegen das Krebsgeschwür der Korruption angegangen sind", drückte er sich diplomatisch aus. Und wenn man sich anschaut, wie die Generalstaatsanwaltschaft gegen das neue Nationale Anti-Korruptions-Büro (NABU) vorgeht, verwundert diese Einschätzung nicht.

Es kommen sogar kritische Stimmen aus dem eigenen Regierungslager. So fragen Mitglieder vom "Block Petro Poroschenko", ob man es nicht eher mit einer "Korruptions-Konterrevolution" zu tun habe. Serhij Leschtschenko spricht von einem "Versuch, das NABU zu einer überflüssigen Behörde zu machen". Er glaubt, es solle verhindert werden, dass diejenigen zur Verantwortung gezogen werden können, die bei der elektronischen Erklärung falsche Angaben machen. Es scheint, dass hier ein Machtkampf im Apparat ausgetragen wird. Denn mit Jurij Luzenko steht ein Vertrauter und Weggefährte von Poroschenko als zuständiger Generalstaatsanwalt genau hinter dem Vorgehen gegen NABU. Der Staatsanwalt behauptet, die Behörde sei für illegale Abhöraktionen verantwortlich.

Gegenüber der internationalen Gemeinschaft wird jedenfalls so getan, als würde gegen Korruption vorgegangen. Auf dem Papier wird auch dieses IWF-Kriterium erfüllt, damit weiter viel Geld ins Land fließen kann. So hatte der ukrainische Finanzminister Daniljuk kürzlich erklärt, dass die Freigabe der neuen IWF-Tranche für das Land wichtig sei, "weil es ein entscheidendes Signal an die Märkte und an die Investoren sendet - und weil dadurch weitere Finanzhilfen von anderer Stelle freigegeben werden können". Die USA hätten für dieses Jahr Haushaltszuschüsse in Höhe von einer Milliarde Dollar als Darlehen zugesagt. Außerdem gehe es um Hilfen für weitere Kredite in Höhe von 600 Millionen Euro und Darlehen für den Kauf von Gas. Auch mit Deutschland werde über einer Ausweitung der bilateralen Kredite geredet, erklärte Daniljuk. Eine halbe Milliarde Euro hat die Ukraine aus Berlin direkt erhalten, während es aus der EU zusätzliche 1,8 Milliarden sind.

Privatisierung ist keine Lösung

Ganz grundsätzlich kritisieren einige Experten die Finanzhilfe an das Land. So schrieben Neil A. Abrams und M. Steven Fish in der Washington Post, dass der Westen wohl eher mit seiner Politik das korrupte System unterstütze und am Leben erhalte. Sie stellen offen folgende Fragen: "Kann die westliche Hilfe wirklich Reformen in der Ukraine unterstützen? Oder hilft sie nur den tief verwurzelten Eliten weiter zu stehlen und keinen effektiven Staat aufzubauen?"

Die Antwort ist für die Autoren ziemlich klar. Sie gehen davon aus, dass die Führer in der Ukraine seit der Unabhängigkeit vor 25 Jahren von der Sowjetunion längst ein effektives Staatssystem mit Institutionen hätten aufbauen können, um der Ausplünderung vorzubeugen und die Steuereinnahmen zu erhöhen. Doch gerade der Zugang zu praktisch unbegrenzten Mitteln aus dem Westen, verhindere das und erhöhe ihr Interesse, den aktuellen Zustand zu erhalten.

Sie sehen deshalb vermutlich in der Ankündigung einer verschärften Privatisierung auch nur eine neue Bedrohung. Denn Staatsfirmen dürften ihrer Ansicht nach doch nur für billiges Geld in die Hände der Oligarchen und Politiker gelangen, was zu einer weiteren Ausplünderung führe.

Telepolis (15.9.2016)