Schäuble-Bericht verrät dramatisches Schuldenrisiko

15.02.2016

Es ist eine beängstigende Analyse: Dem Tragfähigkeitsbericht des Finanzministeriums zufolge bewegt sich Deutschland auf lange Sicht in Richtung Staatspleite. Dafür gibt es vor allem einen Grund.
Nun ist also auch geklärt, was den Bundesfinanzminister am frühen Morgen in Schwung bringt: Radio hören. Zwei Tage verbrachte Wolfgang Schäuble (CDU) diese Woche in Brüssel, schwierige Gespräche waren das, es ging um die Rentenreform in Griechenland, um den portugiesischen Wunsch, künftig weniger zu sparen.

Doch all das regt den altgedienten Politiker offenbar nicht so auf wie Neuigkeiten aus der Heimat. "Wenn ich morgens Nachrichten höre", sagte Schäuble am Freitag in Brüssel, "dann steigt mein Blutdruck schon, ohne dass ich Kaffee getrunken habe." Denn in den Nachrichten ist von immer neuen Forderungen seiner Kollegen die Rede. SPD-Umweltministerin Barbara Hendricks etwa. Mit der habe er 500 Millionen Euro für den sozialen Wohnungsbau vereinbart, später habe sie eine Milliarde Euro verlangt, nun seien es 1,3 Milliarden.
Der Finanzminister, der die "Schwarze Null" im Bundeshaushalt zustande brachte, steht in einem Abwehrkampf gegen die Begehrlichkeiten, die solide wirkende Staatsfinanzen wecken. Bei anderen Politikern daheim, die mit neuen Ausgaben reüssieren wollen. Oder auch im Kreis der EU-Kollegen, wo man gerne auf den "fiskalischen Raum" verweist, den die Deutschen besser ausnutzen könnten.
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Doch diesen Raum gibt es gar nicht, jedenfalls nicht auf längere Sicht, das hat Schäuble nun Schwarz auf Weiß. In den vergangenen Wochen und Monaten haben die Volkswirte des Bundesfinanzministeriums ökonometrische Modelle mit zahlreichen Annahmen gespickt und verschiedene Szenarien entwickelt. Heraus kam ein 70 Seiten starker Bericht, der zeigt, welche Folgen die Alterung der Gesellschaft für die Entwicklung der Staatsfinanzen hat.
Egal, welches Szenario man zugrunde legt: Die Ergebnisse des sogenannten Tragfähigkeitsberichts, den das Kabinett nächste Woche beschließen wird und der der "Welt am Sonntag" vorliegt, sind bedenklich bis dramatisch.
Dramatische Situation im ungünstigen Szenario
Es gebe "erhebliche Tragfähigkeitsrisiken", heißt es. "Ohne frühzeitiges Gegensteuern" wachse die Gefahr, dass die demografische Alterung zu "einer nicht tragfähigen Schuldenentwicklung führt und damit den Handlungsspielraum des Staates einschränkt". In diesem Fall nämlich würde der Schuldenstand des Staates nur dann dauerhaft in der Nähe der Maastricht-Grenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung bleiben, wenn sich Faktoren wie die Geburtenrate ausgesprochen günstig entwickeln.
In einem weniger günstigen Szenario, das Schäubles Experten ebenfalls durchgerechnet haben, würde der Schuldenstand dagegen bis zum Jahr 2060 "kontinuierlich auf rund 220 Prozent" des Bruttoinlandsproduktes steigen.
Schäubles Beamte haben für diese Berechnung die demografische Entwicklung als Grundlage genommen. Und diese lässt sich schon heute gut für die nächsten Jahrzehnte prognostizieren. Derzeit befindet sich Deutschland noch in einer Art "demografischen Zwischenhoch". Im Jahr 2013 war nicht einmal jeder Dritte Deutsche älter als 65 Jahre alt. Im Jahr 2060 dagegen könnte rund jeder zweite von drei Deutschen zum Club der über 65-Jährigen zählen. Selbst im günstigen Fall, etwa bei einer höheren Geburtenrate, wird diese Altersgruppe in ein paar Jahrzehnten auf jeden Fall die Mehrheit an der Bevölkerung stellen.
Das wird den Staat unabwendbar vor erhebliche finanzielle Probleme stellen. Weil weniger Bürger arbeiten, sprudeln die Steuereinnahmen nicht mehr so. Die Sozialversicherungen nehmen weniger an Beiträgen ein. Gleichzeitig erhalten viel mehr Bürger staatliche Leistungen aus der Renten- und Pflegeversicherung.
Mehr Einnahmen – oder harte Einschnitte
So steigen die Rentenausgaben laut Schäubles Bericht von heute 9,3 Prozent am BIP selbst im günstigen Fall bis 2060 auf 11,3 Prozent, im ungünstigen Szenario sogar auf 12,6 Prozent. Die Ausgaben der Pflegeversicherung werden sich so oder so nahezu verdoppeln: von heute 1,0 auf 1,8 Prozent. Im ungünstigen steigen die Ausgaben sogar auf 2,5 Prozent, also um das zweieinhalbfache des heutigen Niveaus.
Etwas weniger dramatisch fallen die Ausgabensteigerungen in der Krankenversicherung aus: Sie steigen von heute 7,0 Prozent selbst im schlimmsten Fall nur auf 7,8 Prozent. Bei der Arbeitslosenversicherung winken sogar Entlastungen. Dafür nehmen allerdings wiederum die Belastungen aus den Pensionszahlungen für Beamte kräftig zu: Von heute 2,1 auf bis zu 3,5 Prozent gemessen an der Jahreswirtschaftsleistung. Ausgabensteigerungen in dieser Größenordnungen kann ein Staat nur über zwei Wege finanzieren: Entweder er nimmt deutlich mehr ein – oder er nimmt harte Einschnitte vor.
Um die deutschen Staatsfinanzen in einem Schritt tragfähig zu machen, müssten die sogenannten (um Zinsausgaben bereinigten) Primärsalden laut Bericht selbst im günstigen Szenario ab sofort dauerhaft um 1,2 Prozent des BIP verbessert werden. Im pessimistischeren Szenario ergibt sich ein Anpassungsbedarf von 3,8 Prozent. Da Einschnitte dieser Größenordnung unrealistisch sind, weist der Bericht auch aus, wie groß der notwendigen Anpassungsbedarf wäre, wenn die Korrekturen gleichmäßig auf fünf Jahre verteilt würden.
Im günstigen Szenario müsste der Staat vom laufenden Jahr an gut sieben Milliarden Euro weniger ausgeben – oder mehr einnehmen. In den Jahren 2017 bis 2020 kämen jeweils weitere sieben Milliarden Euro obendrauf. Im ungünstigen Szenario ist die Situation noch viel dramatischer. Dann nämlich würde sich der jährlich hinzukommende Anpassungsbedarf verdreifachen, auf rund 23 Milliarden Euro.
Flüchtlinge fallen wenig ins Gewicht
Alles nur windige Schwarzmalerei, die allein dazu dient, Schäuble in politischen Auseinandersetzungen zu helfen? Könnte man meinen, ist aber falsch. Denn die Ministerialbeamten haben gemeinsam mit dem Bochumer Wirtschaftsprofessor Martin Werding lediglich längst erprobte Methoden angewandt. Dabei berechnen sie, was passiert, wenn die bisherige Politik unverändert bleibt – was zwar unrealistisch ist, aber für Basisszenarien zugleich die einzige seriöse Methode.
Zudem lässt sich nicht behaupten, dass die darüber hinaus getroffenen Annahmen pessimistisch wären. Bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind Schäubles Beamte sogar auffallend optimistisch. Denn sie unterstellen, dass die Leistungsausgaben dauerhaft nicht stärker steigen als die Wirtschaftsleistung pro Kopf.
Auch der Zustrom von Flüchtlingen fällt laut Bericht erstaunlich wenig ins Gewicht. Bleiben von den 2015 gekommenen Flüchtlingen 500.000 dauerhaft im Land und gelingt ihre Arbeitsmarktintegration gut, werde die langfristige Finanzierungslücke gemessen am BIP um 0,1 Prozentpunkte sinken. Gelingt ihre Integration nicht, "könnte sich die Tragfähigkeitslücke analog um 0,1 Prozentpunkte erhöhen", heißt es.
Gegenüber der schon stattfindenden Einwanderung vor allem aus anderen EU-Staaten falle der Zugang von 500.000 Menschen "langfristig unter Tragfähigkeitsgesichtspunkten nicht ins Gewicht", schreiben die Beamten. Erst bei einem "höheren dauerhaften Zuzug" würden sich die Effekte "entsprechend verstärken".
Schäubles Beamte zeigen sich ratlos
Was sonst noch hilft? Mehr Babys, klar, allerdings "würde sich die Wirkung einer höheren Geburtenrate zu langsam entfalten, um bis zum Jahr 2060 einen wesentlichen finanziellen Beitrag zur Schließung der Tragfähigkeitslücke zu leisten", heißt es im Bericht nüchtern.
Auch sonst zeigen sich Schäubles Beamte weitgehend ratlos. Die Politik müsse mehr Frauen ins Arbeitsleben bringen und daher die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern; der medizinisch-technische Fortschritte könne zudem ein längeres gesundes Leben fördern und damit Gesundheitsausgaben drosseln.
Nur ein Vorschlag wirkt mutig: "Eine weitere Verlängerung der Lebensarbeitszeit" würde sich "positiv auswirken", schreibt das Finanzministerium. Mit 67 ist künftig vielleicht noch lange nicht Schluss.