Lawrow bietet Europäern Kooperation im größeren eurasischen Kontext an

21.12.2019

Der russische Außenminister Lawrow hat in einem Gastbeitrag für die Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ eine bemerkenswerte geopolitische Charme-Offensive in Richtung Europa gestartet. Aufhänger dafür ist der Dienstantritt der neuen EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen in Brüssel. Lawrow konstatiert in seinem Beitrag, daß die Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ bisher mißlungen sei, weshalb es Zeit für einen Neuanfang sei. Dabei hat Lawrow die größere eurasische Perspektive vor Augen.

Der russische Chefdiplomat rekurriert auf die Unterzeichnung des Abkommens zwischen damaligen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft und der Sowjetunion über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit im Jahr 1994. Im gleichen Jahr wurde darüber hinaus noch das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und allen Staaten in Osteuropa und Zentralasien mit Ausnahme Tadschikistans und Weißrußlands vereinbart.

Am Rande des Rußland-EU-Gipfels in St. Petersburg 2003 habe man einen weiteren Schritt zur Überwindung der Spaltungen Europas unternommen, ruft der russische Außenminister in Erinnerung – die Einigung über den Aufbau einer strategischen Partnerschaft in den vier Bereichen Wirtschaft, Außensicherheit, Freiheit und Recht/Wissenschaft/Bildung/Kultur. Wäre die Partnerschaft in diesen Bereichen erfolgreich gewesen, hätte sie „allen Bewohnern unseres gemeinsamen Kontinents“ greifbare Dividenden gebracht, so Lawrow, wie etwa Visafreiheit, eine Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität, eine gemeinsame Regelung der regionalen Krisen sowie die Gestaltung einer Energieunion.

Aber: „Es war jedoch nicht möglich, die Nachhaltigkeit der erklärten Partnerschaft in den Beziehungen zwischen Rußland und der EU sicherzustellen.“ Leider sei „für viele im Westen“ die gesamteuropäische Perspektive nur durch das Prisma des „Sieges im Kalten Krieg“ wahrgenommen worden, bedauert Lawrow. Die Prinzipien einer gleichberechtigten Zusammenarbeit seien durch die Illusion ersetzt worden, daß die euro-atlantische Sicherheit nur um die NATO herum aufgebaut werden und das Konzept „Europa“ ausschließlich mit der EU identifiziert werden solle. „Die traurigen Folgen dieser selbstsüchtigen Politik sind bis heute zu spüren,“ so Lawrow.

Ausdrücklich kritisiert der Moskauer Außenamtschef, daß der Begriff „Europa“ im Westen zum Synonym für „Europäische Union“ geworden sei und inzwischen davon ausgegangen werde, daß nur die EU-Mitglieder ein „echtes“ Europa seien. Ein solcher Ansatz sei aber zutiefst „verdorben“ und komme dem europäischen Integrationsprojekt nicht zugute. Denn: „Geografisch, historisch, wirtschaftlich und kulturell war, ist und bleibt Rußland ein integraler Bestandteil Europas“, unterstreicht Lawrow.

Trotz der Widersprüche blieben Rußland und die EU nach wie vor wichtige Handels- und Wirtschaftspartner, aber auch die größten Nachbarn, die in der Lage seien, die gemeinsame Verantwortung für Frieden, Wohlstand und Sicherheit „in diesem Teil Eurasiens“ unabhängig zu tragen. Lawrow verhehlt in diesem Zusammenhang nicht, daß es „immer mehr Anzeichen dafür gibt“, daß sich „unsere EU-Partner allmählich der Anomalie des aktuellen Zustands bewußt werden“. Nach einer gewissen Stagnation habe sich die Dynamik der Interaktion mit den meisten EU-Mitgliedstaaten wiederbelebt. Auch hätten bereits erste Kontakte mit der neuen EU-Führung stattgefunden.

Hier sieht Lawrow die Möglichkeit eines Neustarts: der nächste institutionelle Zyklus in der EU biete die Möglichkeit eines „Neubeginns unserer Beziehungen“. Es gelte jetzt, ernsthaft darüber nachzudenken, „wer wir in einer sich schnell verändernden Welt füreinander sind“. Er hoffe darauf, daß die Entscheidungsträger in der EU sich an den Geboten der „Großen Europäer“ Charles de Gaulle und Helmut Kohl orientierten, die in den Kategorien „eines gemeinsamen europäischen Hauses“ gedacht hätten.

Lawrow schreibt: „Ich bin überzeugt, daß die Aufrechterhaltung der Identität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Kulturen und Volkswirtschaften im Zuge der Globalisierung nur möglich ist, wenn die komparativen Vorteile aller Länder und Integrationsverbände unseres gemeinsamen Eurasiens addiert werden.“ Dieses sei jedoch nicht im Vakuum, sondern in einer „multipolaren Welt“ mit Blick auf die neuen Finanz- und militärischen Machtzentren in der Region Asien-Pazifik als „neue Realien“ möglich.

Lawrow umwirbt die Westeuropäer mit einer ehrgeizigen Vision: „Wir sehen die Europäische Union als eines der Zentren einer multipolaren Welt.“ Es gehe nun darum, die Beziehungen zur EU unter Beteiligung der Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und aller anderen Länder des Kontinents als eine größere eurasische Partnerschaft vom Atlantik bis zum Pazifik zu formen.

Die Prinzipien für eine solche Partnerschaft seien bereits in wichtigen gemeinsamen Dokumenten formuliert worden, erinnert Lawrow, so etwa in dem beim EU-Rußland-Gipfel in Moskau beschlossenen Dokument zur gemeinsamen Außensicherheit vom 10. Mai 2005. Lawrow verweist weiter auf die am 19. November 1999 unterschriebene Charta für europäische Sicherheit, die auch Rußland unterstützt habe. Lawrow ruft die EU vor diesem Hintergrund mit Nachdruck auf, sich von den in den Dokumenten verankerten Grundprinzipien leiten zu lassen und keine Konstruktionen zu erfinden, die irgendein „erzwungenes Zusammenleben“ vorsähen.

„Vor uns liegen häufige Bedrohungen und Herausforderungen: Terrorismus, Drogenhandel, organisierte Kriminalität, illegale Migration und vieles mehr. Es ist unwahrscheinlich, daß Beschränkungen der Zusammenarbeit mit unserem Land die Perspektiven der Europäischen Union selbst in der modernen Welt verbessern würden“, deutet der russische Außenamtschef an. Rußland sei offen „für eine für die beiden Seiten vorteilhafte, gleichberechtigte und pragmatische Zusammenarbeit – im Einklang mit den Interessen unserer Verbündeten und aller anderen Partner in Eurasien“. Nur so könne ein tragfähiges Modell langfristiger Beziehungen aufgebaut werden, das den Interessen und Bestrebungen der Länder und Völker des gesamten eurasischen Kontinents entspreche.