Freispruch für Vojislav Seselj: Die größte Niederlage der Anklage in Den Haag

01.04.2016

Die Anklage gegen Šešelj war von Anfang an oberflächlich und schlecht recherchiert. Jetzt haben die Richter in Den Haag den umstrittenen serbischen Nationalisten freigesprochen. Das ist vor allem für Serbien ein Problem, wo Šešelj wieder Politik machen will.

Mehr als 13 Jahre nach der Anklageerhebung haben die Richter des UN-Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien den serbischen Nationalistenführer Vojislav Seselj am Donnerstag in allen Anklagepunkten freigesprochen. Das Urteil ist die größte Niederlage der Anklagebehörde des Haager Tribunals, seit dieses zu Beginn der neunziger Jahre durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde.

Zugleich ist der Freispruch ein Triumph für Seselj, der in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wenige Tage vor der Urteilsverkündung siegesgewiss gesagt hatte:  „Ich habe das Haager Tribunal besiegt. Überzeugend. Ich habe es zerlegt. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Ich habe bewiesen, dass alle Vorwürfe gegen mich falsch sind, dass falsche Zeugen vorgeführt wurden, dass viele Dokumente gefälscht waren. (…) Jeder ernsthafte Jurist auf dieser Welt wird zugeben, dass ich das Haager Tribunal besiegt habe.“

Tatsächlich urteilten die Haager Richter nun, die von der Anklage präsentierten Beweise für die Seseljs zur Last gelegten Kriegsverbrechen in Bosnien-Hercegovina, Kroatien und der serbischen Nordprovinz Vojvodina in den neunziger Jahren seien nicht ausreichend für eine Verurteilung. Die Anklage hatte 28 Jahre Haft gefordert. Das Urteil erging in Abwesenheit des Angeklagten. Seselj war im Jahr 2014 aufgrund einer Krebserkrankung, die er nach eigener Aussage mittlerweile überwunden hat, aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Er hatte sich im Februar 2003 freiwillig dem Tribunal gestellt – und damit laut dem am Donnerstag ergangenen Urteil mehr als 11 Jahre unschuldig in Haft verbracht. „Nach diesem Urteil ist Vojislav Seselj jetzt ein freier Mann“, lautete der letzte Satz des Vorsitzenden Richters Jean-Claude Antonetti im Gerichtssaal. Mit diesem Satz ging der längste je vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal abgehaltene Prozess in erster Instanz zu Ende.

Eine persönliche Niederlage ist der Freispruch vor allem für die frühere Chefanklägerin des Haager Tribunals, die Schweizerin Carla Del Ponte. Sie hatte sich noch am Donnerstag vergangener Woche zufrieden über das Urteil gegen den bosnische Serbenführer Radovan Karadzic geäußert, der aufgrund ihrer Anklageschrift in fast allen Punkten für schuldig befunden und zu 40 Jahren Haft verurteilt worden war. Ihre Anklageschrift gegen Seselj Anfang 2003 stand jedoch von Anfang an in der Kritik: Als schlecht recherchiert, oberflächlich und zum Teil falsch begründet.

Serbiens Ministerpräsident hat jetzt ein großes Problem

Die erste, im Januar 2003 unterzeichnete Anklageschrift war mehr ein Flickwerk an Interpretationen als ein gerichtstaugliches Dokument. Die dritte, mehrfach überarbeitete Anklage von 2007, die dann als Grundlage des Prozesses diente, war schon kürzer, präziser und um viele nicht beweisbare Punkte komplett bereinigt – aber auch hier sahen die Richter Seseljs schuld nicht als erwiesen an. Dass es auf einen Freispruch hinauslaufen könnte, hatten Richter des Tribunals im internen Gespräch schon seit langem gesagt. Anders als Radovan Karadzic, der in Bosnien-Hercegovina während des Krieges von 1992 bis 1995 tatsächliche Befehlsgewalt innehatte, war Seselj in den neunziger Jahren die meiste Zeit hindurch nur ein (radikaler) Oppositionspolitiker. Die zum Teil hetzerischen Aussagen Seseljs standen außer Frage, doch war fraglich, ob sich ein direkter Bezug der in Bosnien und Kroatien verübten Kriegsverbrechen zu Seselj nachweisen lasse.

Damit hat auch Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vucic, bis 2008 einer der engsten Vertrauten des Freigesprochenen, nun ein ziemlich großes Problem: Es ist 1,90 Meter neunzig groß, 130 Kilogramm schwer und heißt Vojislav Seselj. Einerseits kann Vucic, bis 2008 Generalsekretär von Seseljs „Serbischer Radikaler Partei“ (SRS) nun darauf verweisen, dass die Politik, an der er in den neunziger Jahren beteiligt war, im Sinne des Haager Tribunals nicht (kriegs-)verbrecherisch war. Dafür muss er nun aber damit leben, dass sein einstiges Idol wieder Politik machen darf in Serbien: Seselj ist Spitzenkandidat der SRS für die serbische Parlamentswahl am 24. April.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.3.2016)