Das missverstandene Russland: Die Doppelmoral des Westens gegenüber Moskau

07.04.2016

Seit Februar 2014 ist in Europa nichts mehr so, wie es einmal war. Die Krimkrise markiert nicht nur den Beginn einer Neuordnung der politischen Landkarte Europas, sondern ist gleichermaßen auch der Ausgangspunkt für eine Politik Moskaus, die auf die Bewahrung alter Einflusssphären gerichtet ist. Warum aber wird der Kreml dafür so heftig kritisiert?

Der Umgang westlicher Staaten mit Russland folgt einer alten Tradition des Misstrauens. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das aufstrebende Zarenreich von Deutschland und seinen Alliierten als akute Bedrohung gesehen.

Deshalb kamen die militärischen Eliten des Deutschen Reichs 1914 rasch darüber ein, dass es besser sei, die Gefahr eines erstarkenden Russlands lieber sofort als später zu eliminieren. Im Vertrag von Brest-Litowsk zwang man dem jungen Sowjetrussland 1918 dann Bedingungen auf, gegenüber denen der Versailler Vertrag geradezu moderat wirkt.

Russland kollabiert

Nicht nur verlor Russland 26 Prozent seines europäischen Territoriums, sondern büßte auch zwei Drittel seiner Kohlegruben sowie mehr als die Hälfte seiner Eisenindustrie ein. Auch gerieten nun bis zu 60 Millionen Menschen unter deutsches Protektorat, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung – mit verheerenden Folgen.

Im Vergleich zu 1913 ging die Getreideproduktion bis 1921 um 53 Prozent zurück, während die Herstellung von Kohle und Stahl um insgesamt 64 bzw. 95 Prozent schrumpfte. Der russische Bürgerkrieg kostete bis 1922 dann noch einmal 8 Millionen Menschen das Leben.

Die Sowjetunion als Supermacht

Aus dem Zweiten Weltkrieg, der die Bevölkerung des Landes bis 1945 um weitere 25 Millionen Menschen reduziert hatte, ging die Sowjetunion schließlich als militärische Supermacht hervor, die dazu in der Lage war, von ihr besetzte Staaten Mittel- und Osteuropas zu sogenannten Satellitenstaaten zu transformieren und damit politisch von sich abhängig zu machen.

Vor diesem Hintergrund konstatierte Winston Churchill bereits kurz nach der bedingungslosen Kapitulation Berlins, wohl das falsche Schwein geschlachtet zu haben.

Eine Tradition des Moralisierens

Seit dieser Zeit ist es im Westen üblich, die Politik Moskaus durch ein moralisches Prisma zu betrachten und sie auf dieser Grundlage zu bewerten. Prinzipiell wäre daran auch nichts auszusetzen, sofern man dieselben Maßstäbe denn auch an sich selbst anlegte.

Dies passiert aber nur selten, weshalb die moralisierende Haltung des Westens unter einer kruden Doppelmoral leidet. Hatte man die Hilfe der UdSSR im Kampf gegen Nazideutschland noch allzu gern in Anspruch genommen, konnte oder wollte man nach Kriegsende nicht verstehen, warum Moskau in den folgenden Jahren nicht dazu bereit war, sich wieder hinter die eigenen Grenzen von 1939 zurückzuziehen, sondern die okkupierten Gebiete offenbar als seine eigene Einflusssphäre betrachtete.

Die Sowjetunion – das Reich des Bösen

Selbstverständlich wäre es töricht, zu behaupten, die USA hätten in Westeuropa eine vergleichbare Politik verfolgt. So ist unbestritten, dass die Stärkung demokratischer Strukturen und der freien Marktwirtschaft innerhalb der amerikanischen Einflusssphäre eine Phase des Wohlstandes induzierte.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die USA dies wohl kaum aus Altruismus taten, sondern vor allem geopolitische Interessen verfolgten – genauso wie Großmächte das eben tun. Da die UdSSR im Gegensatz dazu sozialistische Systeme aufbaute, war klar: Moskau ist ein Feind der freien Welt und eine Bedrohung für den Weltfrieden.

Das während des Kalten Krieges im Westen kolportierte Russlandbild kommt unter anderem auch in dem bekannten Ausspruch Ronald Reagans zum Ausdruck, der die Sowjetunion 1983 als das "Reich des Bösen" bezeichnete – als ob man Staaten in derartige Schablonen pressen könnte.

Das "böse Russland" und die Krim

Hatte man sich in den 1990er Jahren vehement geweigert, Russland noch als Großmacht ernst zu nehmen und es wegen der verstörenden Auftritte Präsident Jelzins oftmals belächelt, ist die westliche Perzeption seit 2000 von einem Paradigmenwechsel geprägt.

Ihm zufolge wird das erstarkende Land zunehmend als Bedrohung empfunden und deswegen für seine Außenpolitik immerfort moralisch kritisiert. Wie absurd der Vorwurf tatsächlich ist, Russland verfolge das Ziel, das demokratische Europa zu zerstören, illustriert nun die Krimkrise.

Russland ist historisch eng mit der Krim verbunden

Im Gegensatz zur moralisierenden Kritik der EU, insbesondere aber der USA, die versucht, die Annexion der Krim als Bruch des Völkerrechts zu inkriminieren, ist die Politik Moskaus durchaus plausibel. Denn bei ihr handelt es sich um ein Gebiet, das historisch eng mit Russland verbunden ist.

1783 dem Krim-Khanat, einem Vasallen des Osmanischen Reichs, entrissen, wurde es bereits von 1853 bis 1856 zum Schauplatz eines Krieges, der dasselbe Ziel hatte, wie heute die Politik der NATO – eine russisches Primat in Osteuropa zu verhindern.

Die Folgen einer Fehlentscheidung

Dass Nikita Chruschtschow die Krim dann 1954 der ukrainischen SSR zuschlug, ist zwar eine historische Tatsache, ändert aber nichts daran, dass Russland im Laufe seiner Geschichte große Opfer für das Gebiet gebracht hat.

Genau wie bei Südossetien und Abchasien, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu Konfliktherden wurden, zeigt auch der Fall der Krim, wie falsch und folgenschwer derartige Schenkungen tatsächlich sind, weil sie nicht mit den ethnischen Verhältnissen vor Ort konform gehen. Obwohl die Krim 1991 bei der Ukraine verblieb, bekannte sich die überwiegende Mehrheit ihrer Bevölkerung stets zu Russland.

Dies galt indes nicht nur für ethnische Russen, sondern auch für zahlreiche Ukrainer, die Russisch als Muttersprache sprachen, sich politisch Moskau verbunden und durch den 2014 in Kiew erfolgten Machtwechsel bedroht fühlten.

Russland ist eine Großmacht

Folglich musste Moskau davon ausgehen, mit Sewastopol womöglich den Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte zu verlieren, was eine schnelle Reaktion nötig machte. Denn jeder Staat, der den Anspruch hat, eine Großmacht zu sein, kann nicht stillschweigend dabei zusehen, wie sich die politischen Verhältnisse im eigenen Einflussgebiet derart zu seinen Ungunsten verändern.

Man muss kein Fantast sein, um sich auszumalen, was die USA wohl täten, wenn sie Gefahr liefen, durch eine Revolution auf Hawaii die Basis ihrer Pazifikflotte zu verlieren. Wie jede Großmacht bei klarem Verstand würde auch Washington Fakten schaffen und die eigenen Interessen notfalls mit militärischen Mitteln durchsetzen – genauso wie es 1982 übrigens auch Großbritannien tat, als es Argentinien den Krieg erklärte, nachdem das Land es gewagt hatte, den britischen Anspruch auf die am anderen Ende der Welt gelegenen Falklandinseln in Frage zu stellen.

Europa hat verlernt, in den Kategorien einer Großmacht zu denken

Warum aber werden im Westen weder die USA, die bis heute (teilweise ohne UN-Mandat) in eine Vielzahl von Ländern einmarschiert sind, noch Großbritannien als Despoten verunglimpft, die das Völkerrecht mit Füßen treten?

Womöglich deshalb, weil solches Verhalten vorderhand gar nichts mit Totalitarismus, sondern mit der Mechanik dessen zu tun hat, wie Großmächte ihre Interessen vertreten – ein Mechanismus, den Europa offenbar vergessen hat und deshalb auch Russland nicht zugestehen will. Es ist legitim und vermutlich auch besser, dass sich die alten Großmächte Europas seit 1945 von ihrem einstigen Weltmachtstreben verabschiedet haben.

Dies gibt ihnen aber nicht das Recht, Russland für das Gegenteil moralisch zu verurteilen; besonders dann nicht, während der engste Verbündete seit Jahrzehnten nahezu unbehelligt das Gleiche tut.

Christian Osthold, Focus online (5.4.2016)